Martin Schmitz Verlag

Die radikale Realistin – eine Ausstellung zur Tänzerin und Performerin Valeska Gert

Sie war eine der einflussreichsten Künstlerinnen der Moderne – und niemand weiß es. Dies zumindest behauptet der Berliner Künstler Wolfgang Müller in einem Buch und einer von ihm mitkonzipierten Ausstellung über die Tänzerin, Performerin, Barbesitzerin, Buchautorin und Schauspielerin Valeska Gert ... Weiterlesen

Martin Conrads, Website des Goethe-Instituts
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Germany's forgotten performer Valeska Gert helped inspire punks

More than 30 years after her death, admirers pay tribute to one of Germany's most enigmatic - and overlooked - artists, dancer and actress Valeska Gert. She's said to have laid the foundations for the punk movement ... Weiterlesen.

Deutsche Welle World, Oktober 2010
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The Remarkable Life of Valeska Gert

Film buffs likely remember Valeska Gert for her role as the headmistress of a reform school in the 1929 Louise Brooks film, Diary of a Lost Girl. She is the curious-looking disciplinarian who bangs a gong as the girls exercise to her orgiastic rhythm. Weiterlesen.

Thomas Gladysz in: Huffington Post, October 15, 2010
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Valeska Gert im Hamburger Bahnhof
Der enigmatischen Berliner Performance-Künstlerin und Vorreiterin der Punk-Bewegung wird eine Ausstellung gewidmet ... Weiterlesen.

Kathrin Bettina Müller in: tip Berlin, 20.9.2010
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Roter Teppich für die fantastische Valeska Gert

Mehr als 30 Jahre nachdem die Tänzerin, Expressionistin und Performance-Künstlerin Valeska Gert auf Sylt gestorben ist, breitet Wolfgang Müller mit seinem Buch "Valeska Gert - Ästhetik der Präsenzen" posthum den roten Teppich für sie aus. 1975 hatte sie ihn als 83-Jährige elektrisiert: "Valeska Gert verpasste dem 18-jährigen Wolfgang Müller eine reine Dosis vis vitalis. Und sie vermittelte eine Idee davon, was es bedeutete, unabhängig und frei zu sein."
Nun ist Wolfgang Müller kein Unbekannter, und frei geblieben ist er genauso wie sie. Mit seiner Band "Die tödliche Doris" hat er in den 80er-Jahren als absurd-verspielter Störsender die Berliner Subkultur aufgemischt, den Punk ins Deutsche katapultiert, mit Kunst, Dada und Performance gekreuzt und die Berliner Kulturfunktionäre aufgeschreckt. Die Gruppe war zu Gast im MoMa New York, auf der Documenta 8 und im Musée d'Art Moderne in Paris.
Müller präsentiert Valeska Gert als eine der wichtigsten Künstlerinnen der Moderne in einem subjektiven, aus einzelnen klugen Essays bestehenden Buch, das mit 272 Seiten im Martin Schmitz Verlag erschienen ist (18,80 Euro).
"Mit Valeska Gert bricht in die Welt der gutmeinenden Eindeutigkeit eine schillernde Alternative ein. Durch ihre Kunst der Entlarvung werden Konventionen oft erst sichtbar", schreibt er. Es ist der Blick eines beeindruckend konsequenten Künstlers auf die ebenso konsequente und radikale Künstlerin, der das Buch zu etwas Besonderem macht. Manchmal kantig und verschwurbelt und trotzdem intellektuell blitzklar nähert sich Müller dem Phänomen Valeska Gert und kommt zu dem Schluss: "Es scheint unmöglich zu sein, Valeska Gert im sicheren Hafen eines Kanons zu vertäuen, eines Genres und der Kunstgeschichtsschreibung überhaupt." Er selbst hingegen macht gern Kunst aus Vogellauten und war 2001 an der HfbK Professor für Elfen- und Zwergenkunde. Ihn und Valeska Gert verbindet viel, auch der Sinn für Poesie, Reibung und Unschuld. Mit diesem Buch hat er der Künstlerin Valeska Gert eine große Geste der Ehrerbietung gezollt. Unbegreiflich, dass es davon so wenige gibt.

Katja Engler in: Die Welt vom 6.8.2010
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Das performative Gesamtkunstwerk
Visionär und kompromisslos: Valeska Gert

„Ich will leben, auch wenn ich tot bin!" Weg und vergessen war sie zwar nie, aber erst allrnählich gewinnt die unvergleichliche Ausnahrnkünstlerin und „Hexe“ (Eigendefinition) die Anerkennung, die sie verdient. Der Berliner Autor, Musiker und Künstler Wolfgang Müller hat ihr nun mit „Valeska Gert - Ästhetik der Präsenzen“ eine wunderbare, anregende, liebevolle und fundierte Hommage gewidmet. Ein Problem für die 1892 in Berlin geborene, jüdische und bisexuelle Gert war wohl von Anfang an, dass sie alle Kategorisierungen und Begrenzungen ablehnte und sprengte. Sie war Tänzerin, Performerin, Film- und Theaterschauspielerin, befasste sich mit bildender Kunst, schrieb Bücher und betrieb Kneipen als künstlerisches Environment. Multitalente dieser Art sind Kästchendenkern immer irgendwie suspekt.
Als der moderne Tanz zu Beginn des 20. Jahrhunderts das klassische Ballett zunächst ablehnte und dann weiterentwickelte, war Gert eine der wichtigsten Pionierinnen. Während Kollegin Mary Wigman das Hohe, Hehre und Kultische tanzte, untersuchte Gert gestaltend die modeme Realität. Sie tanzte das Alltägliche, Abseitige, Verdrängte und Nichtbeachtete dieser Zwischenkriegszeit und wurde damit zum genialen Skandalmagneten. Aber „dies war kein expressiver, grotesker oder satirischer, sondern ein realistischer, konzeptueller und visionärer Tanz“ (Wolfgang Müller). Ein faszinierendes, Mut machendes Leben und das bis dato beste Buch über eine der einflussreichsten Künstlerinnen der Moderne: „Real ist nur die ewige Verwandlung.“

Egbert Hörmann in: L-Mag, Juli/August 2010
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Tanz den Mussolini
Die Tanz- und Ausdruckskünstlerin ließ ihren Körper sprechen: Wolfgang Müller widmet ihr ein faszinierendes Buch

Wer ein Baby hat, weiß: auch wenn man erst acht Monate alt ist, sieht man manchmal aus wie 75. Vor allem kurz nach dem Aufwachen, oder wenn man sehr müde ist. Aber warum schreibe ich über Babys, wenn doch ein Buch über die Tanzerin Valeska Gert (1892-1978) vorgestellt werden soll?
Eine der eindrucksvollsten Performances Gerts ist das Baby: Abwechselnd beziehungsweise gleichzeitig verkörpert Valeska Gert ein Baby und seine Amme. Ihr virtuoses (rasantes) Rollenspiel verblüfft und macht sprachlos vor Staunen, bruchlos wechselt sie von verzweifeltem Babygeschrei zum beruhigenden Singsang der Amme. Dialektik des menschlichen Daseins in anschaulichster Foun. Schon an dieser Stelle wird deutlich: Der Begriff (Ausdrucks-)Tanzerin wird der in Berlin aufgewachsenen Gert, bürgerlich Gertrud Valesca Samosch, nicht gerecht. Sie war Perfounancekünstlerin, lange bevor es diesen Begriff gab. Gert ließ nicht nur ihren Körper sprechen, sie »tanzte« auch mit ihrem Gesicht und – größter Unterschied zum modemen Ausdruckstanz –, sie setzte in »Geräuschliedern« ihre Stimme ein, sang, fauchte, schrie und jammerte.
Auch die Themen ihrer Tanze waren grundlegend anders als die ihrer Kolleginnen/Konkurrentinnen Mary Wigman oder Gret Palucca: Gert tanzte Huren, Kupplerinnen, KZ-Wächterinnen, Autounfälle, einen Zirkus, den Orgasmus und den Tod. Es verwundert nicht, daß Valeska Gett, für ihre Zeitgenossinnen nur Geringschätzung übrig hatte. Sie bezichtigte Wigman und Palucca, lediglich »pseudoklassische Bewegungen« zu vollführen. Ebenso wenig verwunderlich ist, daß weder damals noch heute Valeska-Gert-Tanzschulen existieren (aber z.B. die Palucca-Schule in Dresden): Zu individuell, kraß, kompromißlos und deshalb an Elevinnen unverrnittelbar war ihre Art zu tanzen.
Tanz allein war ihr ohnehin zu wenig: Valeska Gert arbeitete transdiszplinär. Sie wirkte in Filmen mit, schrieb Bücher und Kolumnen, betrieb ihre eigene Kabarettbühne »Kohlkopp« und war in allem, was sie tat, ihrer Zeit weit voraus. Bereits in den 1920er Jahren wünschte sie sich Musik aus Natur- und Großstadtgeräuschen, ließ sich bei Auftritten von kreischenden Mädchen statt vom üblichen Orchester begleiten und schuf 1931 ihr »Opus Nr. 1, Komposition auf ausgeleiertem Klavier« – zehn Jahre vor John Cages präpariertem Klavier, wohlgemerkt. Neben ihrem visionär-avantgardistischen Tun war Valeska Gert aber auch Realistin mit messerscharfem Blick für die Beschränkungen der Moderne – zu scharf und realistisch für Futurist und Surrealist André Breton, der sie auf offener Bühne beschimpfte. Valeska Gert machte die Probleme des technischen Fortschritts sichtbar, mehr noch, sie fokussierte die Fehler. Der gerade aufgekommene abendfüllende Kinofilm zum Beispiel beinhaltete eine Pause, der Tempo gewöhnte Großstädter mußte warten, bis die Rolle gewechselt war. Gert kreiert die auch aus heutiger Perspektive radikale »Pause«: einen Antitanz aus Innehalten und Bewegungslosigkeit. Wäre sie heute noch am Leben, sie würde Atomkraftwerke, Flugzeugabstürze und ICE-Entgleisungen tanzen.
Außerdem erhob sie die Kneipe zum Kunstwerk: 1939 emigrierte Valeska Gert in die USA, weil sie als Halbjüdin in Nazideutschland kaum noch Auftrittsmöglichkeiten hatte. In New York eröffnete sie die Beggar Bar (in der ein gewisser Tennessee Williams kellnerte). Deren Interieur war komplett zusammengebettelt. In den Fünfzigern wurde ihr Ziegenstall auf Sylt legendär: »Die Gäste werden gemolken und meckern«, sagte Gert über ihr Lokal.
Daß Gerts Kunst/Schaffen gemeinhin als dada-, futur- oder expresionistisch bezeichnet wird, ist schlichter Erklärungsnot geschuldet – sofern sie überhaupt in der Geschichtsschreibung vorkommt. Denn anders als Wigman und Palucca taugte Gert nicht zur idealisiert-ätherischen Ausdruckstänzerin. Sie war ein Freak, ein Puck, ein Troll. Für Buchautor Wolfgang Müller ist sie Philosophin und Protopunk, direkte Vorläuferin viel später auftauchender Figuren wie Nina Hagen. »Real ist nur die ewige Verwandlung«, sagt Valeska Gert 1973 – ein Satz, der das Mantra von Popstars wie Madonna und Lady Gaga, sein könnte.
Müllers erste Begegnung mit Valeska Gert fand 1975 via TV in der ARD-Talkshow statt: Der 18jährige ist elektrisiert von der hochbetagten Gert, die auch im Alter Kunst und Leben glaubwürdig vereint. Müllers Entschluß, selbst Künstler zu werden, wird durch dieses Erweckungserlebnis manifest. Gert wird ohne ihr Wissen zu Müllers Muse und Leitstern – immer wieder wird Müller den Einfluß Valeska Gerts auf das Werk seiner Band bzw. seines Kunstprojekts Die Tödliche Doris betonen. Sein Buch über Valeska Gert, »Ästhetik der Präsenzen«, ist daher auch keine Biographie im üblichen Sinn. Denn die gibt es schon und zwar von ihr selbst: die Hitler-Persiflage »Mein Weg«. Außerdem von Susanne Foellmer: »Valeska Gert. Fragmente einer Avantgardistin in Tanz und Schauspiel der 1920er Jahre«, Bielefeld 2006. Wolfgang Müller dagegen bietet Variationen auf der Basis Gert. Er schweift ab, schreibt über Künstler wie Joseph Beuys, Christof Schlingensief, Ming Wong, Björk, Die Tödliche Doris und die Genialen Dilletanten – die Abschweifung hat Methode, Valeska Gerts Person und Werk dient als Matrix für Müllers Gedanken über (moderne) Kunst.
Und noch ein Zitat Gerts, das ihren Dialektik-Begriff verdeutlicht: »Ich will leben, auch wenn ich tot bin«, verkündete sie 1955. Wolfgang Müllers Buch macht Valeska Gert über seine Umwege und Abschweifungen lebendig.

Christina Mohr in: junge Welt, Literaturbeilage 16.6.2010
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»Das Publikum ist nicht dumm«
Gespielter Orgasmus: Warum ein Buch über die Tänzerin, Pantomin und Aktionskünstlerin Valeska Gert? Ein Gespräch mit Wolfgang Müller von Christina Mohr

Warum verzichten Sie weitgehend auf biographische Details aus Valeska Gerts Leben und konzentrieren sich auf ihre Kunst?

In erster Linie interessiert mich die künstlerische Leistung. Ihr Werk hat scheinbar keinen festen Rahmen. Sie hat vorexerziert, was heute alle möglichen Künstler von sich behaupten, nämlich, daß sie und ihre Kunst grenzenlos, frei und offen seien – von Jonathan Meese über Damien Hirst bis zu Christoph Schlingensief. Und es ist doch verrückt, daß ihre Kunst, obwohl so wenig davon übrig geblieben ist, die Behauptungen dieser postmodernen Künstler klar, eindeutig und anschaulich widerlegt. Es war mir ein Bedürfnis, die künstlerische Leistung dieser beeindruckenden Anarchistin zu würdigen und aufzuzeigen. Klar, die Medien interessieren sich mehr für kitschige Homestories aus dem Leben angeblich exzentrischer Künstler – mehr für die Inszenierung von Künstlerklischees als für die Kunst selbst.

War Valeska Gert Feministin? Oder zu sehr Individualistin, um sich um die Belange anderer zu kümmern? Zwischen den Zeilen schimmert durch, sie sei recht kompliziert gewesen.

Das sind die Beschreibungen und Definitionen anderer. Jeder Mensch wird von anderen unterschiedlich wahrgenommen. Eine Künstlerin wie Valeska Gert, die sehr selbstbestimmt ist, sehr klar denkt und ihre Gedanken kompromißlos ausdrückt, muß ja auf die Mehrheit unheimlich wirken und kompliziert dazu – zumal in den muffigen 1950er Jahren.

Warum schreiben Männer eigentlich so selten Bücher über Frauen?

Vielleicht ist es Männern unangenehm, wenn sie merken, daß viele Frauen durch Männer behindert, beklaut oder ins Abseits gedrängt wurden. Bei der Recherche zuValeska Gert stieß ich ständig auf Männer, die heute als ziemlich unbedeutend gelten oder zumindest nicht berühmt sind, aber die Leistungen von Valeska Gert für sich verbuchen wollten. Ihr Gesichtstanz, den Mark Anstendig 1963 fotografiert, geht auf eine Idee zurück, die sie schon in den Zwanziger Jahren öffentlich umsetzte. »Diese Frau tanzt mit dem Gesicht!« schrieb damals Kurt Tucholsky. Trotzdem ist Anstendig davon überzeugt, daß die Fotografien allein sein Werk sind. Sicher, sein kühler, sachlich-technischer Blick ist perfekt, um den Gesichtstanz von Valeska Gert, ihr bewußtes Neben-sich-selbst-stehen, ihr Außer-sich-sein zu dokumentieren, aber selbstverständlich waren daran beide beteiligt.

Sie bezeichnen Valeska Gert als direkte Vorläuferin des Punk und der Genialen Dilletanten. Glauben Sie, Nina Hagen und Valeska Gert hätten sich verstanden?

Die 85jährige Valeska Gert bekam nach ihrem einzigen Talkshow-Auftritt im NDR tatsächlich Fanpost von Punks. Ihr Lokal »Ziegenstall« sah auch aus wie ein Punkclub – schon in den 50er Jahren. Nina Hagen ist tatsächlich sehr von ihr beeinflußt und hat sie in einem frühen Interview als großes Vorbild bezeichnet. Ob sie sich mal getroffen haben, weiß ich nicht. Womöglich hätten sie sich gestritten. Vielleicht hätte Valeska zu Nina Hagen gesagt: Du imitierst mich. Deine berühmte, schief verzogene Schnute hast du aus meiner »Canaille«-Darstellung, dem Film von Suse Byk aus den Zwanzigern geklaut, deine Stimme setzt du so akrobatisch ein, wie ich das seit den Zwanzigern tue. Und dein ORF-Skandal mit der öffentlichen Demonstration der Selbstbefriedigung – das hast du doch auch von mir. Ich habe schon 1920 einen Orgasmus auf der Bühne performt. Aber vielleicht hätte sie auch gesagt: Toll, daß endlich jemand meine Ideen in Pop übersetzt und dadurch bekannt macht.

Sie schreiben in Ihrem Buch auch über andere Künstler wie Ming Wong, Marina Abramovic, Damien Hirst und außerdem über Ihre eigene Arbeit mit Die Tödliche Doris. Kann Valeska Gert in ihrer Radikalität als eine Art Folie dienen, um die Kunst anderer zu betrachten?

Da sich ihre Kunst Definitionen und Kategorisierungen beharrlich entzieht, helfen Gegenüberstellungen, gerade mit zeitgenössischen Künstlern. Man spürt schneller deren Qualität oder auch deren Grenzen. Aber insgesamt geht es mir in diesem Buch vor allem um die Qualitäten von Valeska Gert. In ihrem letzten, unveröffentlichten Interview aus dem Jahr 1978 spricht sie davon, sie glaube nicht, daß das Publikum dumm sei und nicht überfordert werden dürfe. Ihrer Meinung nach seien die Dummen eher diejenigen, die im Kulturbetrieb das Sagen hätten, also Theaterdirektoren, Intendanten, Produzenten, Verleger usw. Diese würden Interessantes verhindern, eben weil sie denken, das Publikum sei genau so dumm wie sie selbst. Das ist sehr wahr, und es hat sich nichts daran geändert.
Gert gilt als Erfinderin der Tanzpantomine, die Marcel Marceau von ihr übernommen und berühmt gemacht hat. Sie selbst dachte dagegen alle Möglichkeiten immer nur an und machte, wenn sie ein Konzept realisiert hatte, sofort wieder etwas ganz Neues. Viele ihrer Konzepte changieren zwischen den Genres, sind beispielsweise Tanz-Performance, Ton-Tanz oder Happening-Tanz-Schauspiel, sie bewegen sich oft genau an den Grenzen der Genres, sind nicht eindeutig festzulegen, zeigen aber gerade deshalb deutlich die Genregrenzen auf. Um aber etwas Ungesehenes zu zeigen, sind gewisse Umwege notwendig.

Interview von Christina Mohr in: junge Welt vom 16.6.2010
Das Interview in voller Länge unter satt.org
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Die Oma der Punks
Wenn Nina Hagen die Mutter des Punk ist, dann ist Valeska Gert wohl seine Großmutter. Wolfgang Müller würdigt die vergessene Berliner Künstlerin.

Sein neues Buch beginnt sehr persönlich. Wolfgang Müller erzählt von seiner Kindheit und Jugend in Wolfsburg, vom Schulabbruch und dem Entschluss, Künstler zu werden. Begründung: weil man dafür kein Abitur braucht. Seine Bewerbungsmappe voller Karikaturen, Skizzen und Comics wird von der Hochschule in Braunschweig abgelehnt. »So verbrachte ich die nächsten Jahre als dem Arbeitsmarkt schwer vermittelbarer, ungelernter Hilfsarbeiter ohne Schulabschluss.« Erst nach dem Umzug nach Berlin fasst Müller Fuß, wird an der Hochschule der Künste aufgenommen, findet in der gerade aufkeimenden Punk- und Wave-Szene Gleichgesinnte und gründet die Musik- und Künstlergruppe Die Tödliche Doris.
Dazwischen liegt ein Ereignis, das ihn entscheidend prägen sollte. Im November 1975, Müller wohnt noch in Wolfsburg, schaut er sich die ARD-Talkshow »Je später der Abend« an, unter den Gästen ist eine ältere Dame namens Valeska Gert. Müller gerät ins Schwärmen über die vitale Person: »Diese mir zuvor völlig unbekannte Tänzerin und Schauspielerin überzeugte mich mit dem vollen Gegenprogramm. (…) Sie war der leibhaftige Gegenbeweis der Befürchtung, dass das Alter automatisch zu Sentimentalität, Resignation, Anpassung, Spießigkeit, Verknöcherung oder Abstumpfung führt.«
Nun hat Müller über die inzwischen fast völlig vergessene Frau ein ganzes Buch geschrieben. Sein Sujet ist so randständig und unpopulär wie »Blue Tit«, Wolfgang Müllers 1998 erschienenes »deutsch-isländisches Blaumeisenbuch«. Verleger Martin Schmitz zufolge kapitulierten die Buchhändler damals reihenweise, weil sie nicht wussten, ob sie es nun unter Belletristik, Kunst, Reiseführern oder Tierbüchern einordnen sollten. »Valeska Gert – Ästhetik der Präsenzen« könnte fast als Biografie durchgehen und den Buchhändlern die Einordnung erleichtern, wäre da nicht die ernüchternde Tatsache, dass sich draußen wohl kaum jemand für eine experimentelle Tänzerin jenseits der etablierten Theater- und Ballettbühnen interessiert.
Mit voller Leidenschaft setzt Müller allerdings alles daran, Valeska Gert in den Mittelpunkt einer progressiven Kulturgeschichte des 20.?Jahrhunderts zu rücken. Das beginnt bereits damit, dass er die These vertritt, Valeska Gert sei für die Tödliche Doris und die Berliner Szene der »Genialen Dilletanten« genauso wichtig gewesen wie Andy Warhol, John Cage und die Sex Pistols. Liest man Gerts Einschätzung der Tanz- und Theaterszene in Deutschland, hat man tatsächlich den Eindruck, dass diese Frau schon früh ein Punk im Geiste war. Ein auf Literatur und Text aufbauendes Theater erklärte sie bereits in den zwanziger Jahren für veraltet, in den sechziger Jahren erklärte sie: »So wie das Theater jetzt ist, ist es einfach stinklangweilig«. Über Brecht, in dessen Verfilmung der »Dreigroschenoper« sie 1931 mitgespielt hatte, merkte sie als 86jährige an: »Er roch immer schlecht.« Seine Charaktere, kritisiert sie, seien immer holzschnittartig. Und lacht am Ende: »Das darf man wohl nicht sagen?!« Dem konventionellen Theater und Tanz setzte Gert etwas entgegen, was auch Müller nur schwer in Worte fassen kann. An einer Stelle nennt er es »lebende Plastik«, an einer anderen spricht er davon, dass Gert die in den siebziger Jahren entstehende Performance-Kunst vorweggenommen habe. Konkret wird es allerdings erst dort, wo Müller Tanzformen von Gert beschreibt, bei denen es darum geht, die Komplexität des menschlichen Charakters in all seinen Widersprüchen darzustellen. Wenige Jahre nachdem die als »entartet« diffamierte Künstlerin aus dem Exil nach Deutschland zurückkam, nahm sie sich beispielsweise eines Themas an, das in den fünfziger Jahren noch gründlich verdrängt wurde: Sie führte eine Tanzperformance auf, in deren Mittelpunkt die für ihre sadistische Grausamkeit berüchtigte KZ-Aufseherin von Buchenwald, Ilse Koch, stand. Gert habe, so Müller, »die Komplexität von Selbst- und Fremdwahrnehmung« dargestellt, einerseits die liebevolle Mutter, die auf der Anklagebank Pullover häkelt, andererseits die Sadistin, die in Gerts Aufführung Häftlinge anbrüllt: »Bemalt mir diesen Lampenschirm/war einst Haut auf Menschenhirn.«
Als eine der wenigen modernen Tänzerinnen der Zwanziger, die sich nicht wie Gret Palucca oder Mary Wigman dem Nationalsozialismus andiente, wurde Valeska Gert in den Siebzigern von den Vertretern des Neuen Deutschen Films wiederentdeckt. Volker Schlöndorff gab ihre eine Nebenrolle als Tante Praskovia in der Literaturverfilmung »Der Fangschuss« (1976) und drehte ein Jahr später einen ganzen Dokumentarfilm über Gert. Werner Herzog engagierte sie daraufhin für seine »Nosferatu«-Neuverfilmung, kurz nach Unterzeichnung der Verträge starb Valeska Gert. Schlöndorffs Film nach einer Romanvorlage der belgischen Autorin Marguerite Yourcenar, angesiedelt in den zwanziger Jahren, schildert eine versteckte homosexuelle Beziehung, die allerdings nur angedeutet wird. Mitten in die hölzernen Dialoge platzt Valeska Gert ?hinein: »Nein, der Vater von dem, von dem Dings?da, von dem Volkmar, hat mit dem Rasputin was gehabt. Der war doch schwul!« Hier sprengt eine die ganze bürgerliche Zurückhaltung. Alleine die Verwendung des Wortes »schwul« in einem Historienfilm macht klar: Diese Frau ließ sich nicht bändigen.
Für Wolfgang Müller ist Valeska Gert eine politische Künstlerin, die spätere feministische und queere Performances beeinflusst hat. So ließ sich zum Beispiel die Berliner Künstlerin Bridge Markland in den neunziger Jahren von Gert zu einer Performance inspirieren, in der sie die Wandlung eines weiblichen Vamps in einen männlichen Macho darstellte und damit, so Müller, »die Gestaltbarkeit von Körperprojektionen« reflektierte. Müllers Tribute to Gert ist jedoch nicht akademisch oder kunsthistorisch angelegt, sondern steckt voller Anekdoten und amüsanter Abschweifungen.
Der Journalist Werner Höfer, dem 1987 ein Zeitungsartikel von 1943 zum Verhängnis wurde, worin er die Hinrichtung des »undeutschen« Pianisten Karlrobert Kreiten ideologisch legitimierte, war ein großer Fan der Künstlerin. Gert und Höfer lebten als Nachbarn auf der Insel Sylt. Der Journalist umschwärmte sie und schaffte es, dass Gert ihm ihr Haus, den »Ziegenstall«, vermachte. Nach ihrem Tod ließ er es abreißen. Müller erkennt darin die Kontinuität des Nationalsozialismus. Joseph Goebbels hatte Fotos von Valeska Gert auf dem Cover seines Pamphlets »Das erwachsende Berlin« abgebildet, wo sie als als Inbegriff des »dekadenten jüdischen Einflusses« dargestellt wurde. Die Punks dagegen, die »erstmals wieder das Groteske, das Absurde in der Normalität spürbar« machten, sind für Müller die wahren Erben von Valeska Gert, darunter auch Nina Hagen. Deren Onanie-Anleitung in einer ORF-Talkshow von 1979 ist für Müller ein Update der radikalen Choreographie der Künstlerin. Glaubt man Wolfgang Müller, dann kommt an dieser Frau niemand vorbei, der sich für die wenigen Beispiele widerständiger Kultur in Deutschland interessiert.

Martin Büsser in: Jungle World Nr. 26, 1. Juli 2010
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