Martin Schmitz Verlag

Lucius Burckhardt erwandern

PlanerInnen sehen sich oft mit der Forderung konfrontiert, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Zu glauben, mit Planung dazu beitragen zu können, soziale Probleme und Konflikte zu lösen, hieße jedoch, diese zu überfordern, denn die Ursachen dafür liegen meist in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Gesellschaftliche Konflikte lassen sich nicht durch neue Häuser "lösen", gleichzeitig ist Planung keineswegs isoliert von den gesellschaftlichen Verhältnissen möglich und muss sich als Teil dieser begreifen. Die Frage: "Wer plant die Planung?" wird den planerischen Disziplinen immer noch allzu selten gestellt. Diese ziehen sich auf die Normen zurück, lassen die gesellschaftliche Bedeutung der Normierung aber sicherheitshalber außer Betracht.
Eine Beantwortung der im Titel gestellten Frage, darf man sich von dem Buch nicht erwarten. Die Bereiche Architektur, Politik und Mensch bilden Teile eines Netzwerks, die sich gegenseitig beeinflussen und als deren Kommunikationsinstrument Planung dient. Die Frage wie die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt über Politik vermittelt wird und Planung ihre Rolle als ein politisches und gesellschaftliches Instrument der Umweltgestaltung versteht, war Lucius Burckhardts vordringlichstes Forschungsinteresse.
Die Herausgeber Martin Schmitz und Jesko Fezer gliederten innerhalb dieser Bereiche die Artikel Burckhardts chronologisch, was zur Folge hat, dass es - wie bei allen Kategorisierungen von einander in Beziehung stehenden. Elementen - zu Überschneidungen und Wiederholungen kommt. Doch all dies regt noch mehr dazu an, sich - wieder einmal - mit den Inhalten dieses Planungskritikers auseinanderzusetzen.
Lucius Burckhardt, in den sechziger Jahren Chefredakteur der Architekturzeitschrift Werk und ab 1973 für viele Jahre als Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme an der Gesamthochschule Kassel tätig, waren die gesellschaftliche und politische Komponente und die gesellschaftliche Verantwortung der Planung immer ein zentrales Anliegen. Er übte Kritik an den "sauberen Lösungen" von - zum großen Teil durch PlanerInnen selbst deduzierten - Problemen, stellte mit seiner Spaziergangswissenschaft die Landschaft - ganz im Gegensatz zu H.D. Thoreaus Negation der kulturellen Komponente von "Wildnis" - genau in diesen kulturellen Kontext und wetterte gegen Rekonstruktionen von Gebäuden oder Gärten durch den Denkmalschutz.
Den Hinweis auf den sozialen Charakter räumlicher Zusammenhänge kann man mit Burckhardts Worten nicht oft genug wiederholen: "Die Umwelt der Menschen ist nicht das, was man sieht, die Umwelt ist sozial." Er beschreibt die Umwelt als nicht alleine das Konkrete, sondern als eine durch ihre sozialen Komponenten mit einem unsichtbaren Charakter ausgestattete. Daher sollte sie nicht über die scheinbar sauberen Lösungen der Gestalter bearbeitet werden. Umwelt, so Burckhardt, soll in ihrem politischen Charakter als Zeichen der gesellschaftlichen Beziehung der Menschen untereinander auf der sozialen und politischen Ebene thematisiert werden. Im Mittelpunkt steht bei Burckhardt der Gedanke, dass der Glaube an die Trennung von technischer und sozialer Lösung die Manipulation der Verhältnisse an die PlanerInnen abschiebt, und gleichzeitig die Planung ihrer politischen Verantwortung entbindet.
So schreibt er in "Das Ende der polytechnischen Lösbarkeit" (1989), dass "Stadtplanung eine Verteilung oder Umverteilung des Leides" sei, und es daher eine technische Objektivität nicht geben kann. In den sechziger Jahren erkennt er in der mannigfaltig publizierten "Krise der Städte" im Kern eine "Krise der Beschlussfassungen", also eine Krise zwischen den herrschaftlichen Planungsmethoden und dem Entstehen einer selbstbestimmteren Zivilgesellschaft.
Doch auch hier sind Planung Grenzen gesetzt: Die physische Veränderung sei "sekundär", denn es ist die "unsichtbare Struktur von Besitz, Gesetzgebung begleitet von interpretatorischer Manipulation, welche die Umwelt bestimmen. Burckhardt nennt dies die "Nicht-Neutralität der Objekte", die Funktionsfestschreibungen bezeichnet er als den "disziplinierende(n) Charakter der Umwelt gestaltung durch die Mächte der Ordnung". In "Design ist unsichtbar" widmet sich Burckhardt verstärkt der Kritik an den Institutionen, die er als Begriff weiter fasst als sonst üblich, um festzustellen: "Design hat eine institutionell-organisatorische unsichtbare Komponente". Daraus folgert seine Forderung nach Strategien statt nach Lösungen. Denn das Verfolgen simplifizierter Ziele und deren Lösung ziehe viele weitere "Probleme" nach sich, die in der ersten Abstraktion während der Definition des Problems unberücksichtigt blieben.
Es ist logischerweise nicht möglich im Buch zu erlesen, wie diese Strategien aufgebaut sein können, denn das Rezept steht dem Prozess diametral entgegen. Der Eindruck, dass sich Burckhardt nur andeutungsweise mit der Frage der Ökonomie des Raumes auseinander gesetzt hat, liegt nur in der Auswahl der Artikel begründet.
Es gibt nämlich mehr als nur "einen Pfad durch die Planungstheorie von Ludus Burckhardt", wie die Herausgeber schreiben. Mit einem Gedankenspaziergang durch ältere Bücher wie "Design = unsichtbar" und "Die Kinder fressen ihre Revolution" - sowie durch dieses neue Buch - kann man sich die Arbeiten Burckhardts, der die gesellschaftliche Bedeutung und Verantwortung der PlanerInnen einforderte, erwandern und erkennen, dass Planung kein gesellschaftspolitisches Niemandsland ist, und dass das "Niemandsland [...] ein Produkt der Planung [ist]: Ohne Planung kein Niemandsland."

Erik Meinharter in: dérive 20, Zeitschrift für Stadtforschung
www.derive.at
Zurück

Wer plant die Planung?

Ein neues Buch von Lucius Burckhardt (1925 bis 2003) ist herausgekommen. Jesko Fezer und Martin Schmitz haben 34 seiner seit den 1950er Jahren veröffentlichte Aufsätze zur Wechselbeziehung von Architektur, Politik und Mensch neu sortiert und lesenswerte Vorworte geschrieben. Das Werk des Basler Soziologen erweitert das planungstheoretische Wissen um die unsichtbare Dimension der Gestaltung und hebt es auf ein tragfähiges Fundament. Da die Grundfragen erfolgreicher Stadtentwicklung am besten aus der sensiblen Fußgängerperspektive formuliert werden können, nannte Burckhardt sein Fachgebiet "Spaziergangswissenschaft". Voller Überraschungen sind seine Gedankengänge; sie sind eine Quelle, die alles andere speist: deshalb sind sie als Grundlagenforschung besonders bedeutsam.
Das Design der Stadt ist "unsichtbar": Obwohl wir ein Meer von Häusern und Straßen sehen, ein aus festem Stein gemachtes Manifest kulturellen Schaffens bewundern oder ablehnen, ist die Stadtbildung kein baulicher, vielmehr ein nie endender sozialer Prozess: schier unzählige Beschlüsse, Finanzierungsweisen und Normen prägen das gesellschaftliche Leistungsvermögen; sie beschließen, ob mono- oder polypole Marktformen, ob zentrale oder dezentrale Einrichtungen, ob kollektiver Verbrauch oder Selbstversorgung im Zielfeld der Politik stehen. Andererseits ist das soziale Leben ortsbezogen und viele wichtige Dinge finden statt in der Stadt: Wirtschaftliche Aktivitäten, Bildung aber auch Müßiggang überlagern sich und bündeln im Idealfall die Ressourcen. Im Zyklus der Generationen können reichhaltige Angebote entstehen. Zweifelsohne finden die Lebensweisen in den Häusern und Straßen statt und machen durch die Begegnung, durch den Informationsaustausch die Stadt sichtbar; aber stets wandeln sie sich und sind nicht vorhersehbar.
Auf die sozialen und zufälligen Prozesse der Stadtbildung haben Architektur und Politik noch keine adäquate Antwort gefunden. Heute münden doch die gesellschaftlichen Probleme jeweils in einen Bau: Knappe Parkplätze - man baue ein Parkhaus; alte und kranke Menschen - eine Seniorenresidenz, dazu ein gerontologisches Krankenhaus; fehlende Steuereinnahmen - aus Kassel kommt die Idee für ein neues Finanz- und Behördenzentrum. Einmal errichtet, wollen die ersehnten Häuser unterhalten werden; sie binden einen nicht unerheblichen Teil des Budgets, das dann für die eigentlichen Zwecke fehlt. Ausnahmslos ist die Eigenschaft der Gebäude, bestimmte Missstände zu lösen, nicht gegeben, da sie dem Grunde nach nutzungsoffene Hüllen sind.
Auch der Verkehr schafft seine Bauten: Mit einem schicken Äußeren mögen Busse und Bahnen zunächst auffallen. Die verborgenen Qualitäten der Öffentlichen, wie preiswerte Verkehrstarife und ein Fahrplan, der die Menschen auch nachts abholt, sind für Fahrgäste relevanter.
Eine einmal "gefundene" Arbeitsteilung der Verkehrsmittel verharrt auch nicht: wird der öffentliche Verkehr nur mäßig genutzt, führt dies zunächst unvermeidlich zu Fahrplanausdünnung, zu Straßenverstopfung, zu Sicherheitsproblemen. Unablässig ertönt der Ruf nach noch mehr Stellplätzen, die wiederum leistungsfähigerer Fahrbahnen bedürfen; dies sind schließlich niemals befriedbare Forderungen, weil sie die Axt an die wiederum unsichtbaren Lebensbedingungen der Innenstädte legen. Und wenn heute der öffentliche Verkehr vermehrt privat und der private Verkehr öffentlich finanziert werden muss, verweist dies auf das Dilemma untauglicher Lösungsansätze: Aber malt man sich deren Folgen aus, entspringen neue, überraschende Ideen.
Die Beispiele skizzieren, alle Gestaltung gründet auf Werte-Entscheidungen? und ihre Nutzung entfaltet wiederum eine subtile Dynamik. Die tatsächliche Bedeutung der Architektur, ihre lebensdienende Qualität, misst sich, so eigentümlich es klingen mag, an der verdeckten Seite der Planungsmedaille: Lucius Burckhardt hat sie umgedreht, faceffenreich aufgezeigt, er hat sie begreifbar gemacht mit dem Theorem "Design ist unsichtbar".
Wer regiert die Stadt, wer plant die Planung? Der Bürgermeister und sein Stadtbauarchitekt? Nein, entgegnet Burckhardt: Städte sind unregierbar, sie bauen sich selbst! Sehr fein ist seine Darstellung einer prozesshaften Stadtbildung; sie kann durch die Architektur keinesfalls als ideales bauliches Ergebnis im Vollausbau gelöst werden, im Gegenteil: Eine aufgeklärte Planung erleichtert die Lebensweisen in den dauerbelasteten, fragilen Gebieten; sie verbessert flächendeckend die Erschließung und baut insbesondere auf die Bewohner, wen sonst damit sie mit ihrem Gestaltungswillen in der Stadt sichtbar partizipieren können.
Die logisch" aufgebaute Stadt bietet dem Spaziergänger eine selbstverständliche Orientierung von jedem Ort. Wie die Demokratie transformiert sich die Stadt sehr langsam. Damit sie sich mit Bedeutung anreichern kann, forderte Burckhardt als planerische Richtschnur dem "kleinstmöglichen Eingriff": Während große bauliche Eingriffe, das Leben zwar versuchen zu ordnen, also entmischen und schließlich Unordnung hervorrufen, bezwecken kleine Eingriffe das Gegenteil: das Flickwerk, die vermeintliche Unordnung kann sogar eine sozial stabilere, höhere Ordnung herstellen, als jede planerische Gesamtkonzeption. Deshalb hat Burckhardt mit dem "kleinstmöglichen Eingriff' eine höhere Ordnungsvorstellung fest im Blick: Die "logisch" aufgebaute Stadt erzählt eine Geschichte, sie zeigt, was in ihr geschieht; sie bietet dem ortsfremden, flanierenden Spaziergänger eine selbstverständliche Orientierung von jedem Ort. - Und schön, gemütlich, brauchbar und damit kunstvoll kann die Stadt werden, wenn der Muße, dem Zufall eine Chance gegeben wird.
Burckhardts Betrachtungen knüpfen an, wo die stets künstlich hergestellte städtische Landschaft immer fragmentierter, unlesbarer und schließlich immer hässlicher wird, weil isolierende "Lösungen" vielfältige Formen von Erschwernissen, Umweltverschmutzung und "Brachen" hervorbringen. Seine Beschreibungen geben Hilfestellungen, politische Entscheidungen und Planungen in ihren Voraussetzungen und Auswirkungen zu lesen. Dabei ist seine prägnant und humorvoll vorgetragene Planungskritik so verblüffend wie naheliegend; immer ist sie weiterführend und fordert zum Nachdenken heraus; gilt es doch diffizile Probleme nicht reflexartig "lösen" zu wollen, sondern strategisch anzugehen.
Mit einfachen Worten und präzisen Begriffen bietet der Autor eine schöpferische Sprache für das "unsichtbare" Gesellschaftsereignis Stadt. Beim Lesen erscheint sein Sprachwerk als ein beziehungsreiches Bild, das mit wiederholter Lektüre aus anderem Blickwinkel hervortritt. Wie die Gemälde der alten Meister deuten Burckhardts Beschreibungen auf eine andere, menschgemachte Landschaft; zunächst ist sie kaum wahrnehmbar, doch mit erneutem Spaziergang verrücken sie allmählich die Perspektive.

Roland Hasenstab in: mobilogisch! Ökologie, Politik, Bewegung, Juni 2005 www.mobilogisch.de
Zurück

Ausweitung der Perspektiven

Schon im Titel dieser Auswahl von Schriften kündigt sich jenes entwurfskritische Denken und Argumentieren an, das die Arbeit von Lucius Burckhardt Zeit seines Lebens bestimmt hat. Im Jahr 1974 überschrieb Burckhardt einen seiner Texte mit der Frage "Wer plant die Planung?" und signalisierte damit den Willen und die Notwendigkeit, hinter die Oberflächen gestalterischen Schaffens zu blicken: dorthin, wo politische und wirtschaftliche Entscheidungen getroffen, Zielsetzungen größeren Umfangs definiert werden. Lucius Burckhardts Feststellung "Design ist unsichtbar", die sich nicht zuletzt von Marshall McLuhans „Environments are invisible" herleitet, zielt auf Vernetzungen und Konditionierungen jenseits der Kulissen formaler Anschaulichkeit.
Der von Jesko Fezer und Martin Schmitz herausgegebene Band ergänzt sehr gut die letzte, vor neun Jahren bei Hatje Cantz erschienene Textauswahl. Jüngere Texte und Vorträge - etwa zur Stadt im Jahre 2028 oder zur Frage „Wie entsteht Gemütlichkeit" - sind nun hinzugekommen. Und auch ältere Schriften - wie "Schwierigkeiten beim Nachdenken über Leitbilder" - die in bisherigen Textsammlungen nicht vertreten waren. Fezer und Schmitz haben sich auf die drei Bereiche "Politik - Umwelt - Mensch" konzentriert, die Burckhardt - anhand von zehn Thesen - als das zentrale Beziehungsdreieck entwerferischen Denkens und Handelns erörtert. Die über dreißig Texte, die das Buch versammelt, illustrieren das wesentliche Anliegen Burckhardts: die Perspektiven der Zusammenhänge, Ziele und Konsequenzen von Gestaltung - besonders im Umgang mit städtischem Lebensraum - radikal auszuweiten.
Die von Burckhardt praktizierte Erkundung konkreter Bedürfnisse, Wünsche und Empfindungen im Umgang mit städtischem Lebensraum führt fast immer zu eklatanten Widersprüchen gegenüber den Maßnahmen "zielgruppen-orientierter" Planung durch Behörden und Investoren. Denn diese orientieren sich meist mehr an Kosten-Gewinn-Schätzungen als an den Tages- und Lebensverläufen der Personen, für die eigentlich geplant werden sollte. In dieser Praxis der einsamen Planungsentscheidungen (gefällt im Interesse von Personen, die nicht mit den Resultaten leben müssen) liegt eines der Hauptprobleme, die Burckhardt benennt: die fehlende Beteiligung der Menschen an der Gestaltung ihrer Umwelt. Diese Beteiligung gilt es, von planerischer Seite zuzulassen und zu moderieren. Aber da sie ein ungewohntes Angebot darstellt, muss sie auch den meisten Bürgern und Bewohnern von Lebensraum erst einmal vermittelt werden. Daran hat Lucius Burckhardt sein ganzes Leben lang gearbeitet und Methoden entwickelt - wie etwa die Spaziergangswissenschaft -, die sich hier nachlesen lassen.

Hans Höger in: Form 200, Januar/Februar 2005
Zurück zum Buch

Lucius Burckhardt (1925-2003) setzte sich Zeit seines Forscherlebens mit Planen und Bauen in der Demokratie auseinander. Im vorliegenden Band ist eine Auswahl seiner Texte zusammengefasst, die Einblick verschaffen in seine Planungstheorie. «Wir neigen dazu, die Probleme der Zukunft so zu lösen, als wären es unsere heutigen», lautet einer seiner Kernsätze. Er beschreibt die real existierende Planung als immer währenden Versuch, anstehende Probleme endgültig zu lösen. Dabei werden diese auf das vermeintlich Wesentliche reduziert- und dann stellt sich meist heraus, dass die Summe des eigentlich Unwesentlichen die ganze Lösung unterläuft. Gegen zu wenig Parkplätze helfen nur neue Tiefgaragen. Wenn diese nur nicht zusätzliches Verkehrsaufkommen auslösen und das ursprüngliche Problem verschärfen würden.
Burckhardt versteht Planung als fortlaufenden Prozess, der gar nicht zu endgültigen Ergebnissen führen darf, sondern Tendenzen aufnehmen und weiterentwickeln sollte. Die einzelnen Planungsschritte müssen dabei so gestaltet sein, dass sie von künftigen Generationen stets korrigiert werden können.
Burckhardt begann seine Theorie in den fünfziger Jahren zu entwickeln, als es dem Common Sense entsprach, die Städte mit Schnellstrassen und gigantischen Parkinganlagen autogerecht zu machen. Die Aktualität seiner Texte zeigt, wie wenig wir seither dazugelernt haben.

Maja Wyss in: Bilanz Nr. 4/2005
Zurück zum Buch

Wir bauen eine neue Stadt
Am schönsten ist Architektur oft, wenn Sie verhindert wurde: Lucius Burckhardt über Planer und Pläne im Städtebau

Berlin Kreuzberg wurde doch nicht vollends abgerissen und durch Wohnblöcke ersetzt. Das Kottbusser Tor ist heute kein Autobahnkreuz, wie man es in alten Plänen noch sehen kann.
Mit dem Häuserkampf gegen Ende der 1970er Jahre erreichte die Kritik an den Vorhaben der Architekten, Städtebauer und Politiker nicht nur in Berlin einen radikalen Höhepunkt. Der Protest konnte in vielen Städten die geplante Stadtzerstörung stoppen.
Es gibt eine Geschichte der Urbanismuskritik und sie beginnt mit den Forschungen und Analysen von Lucius Burckhardt. Der schrieb schon in den 1950er Jahren engagiert gegen die Planungen in seiner Heimatstadt Basel an und machte diese Themen zu seinem Beruf, der ihn durch verschiedene Positionen als Soziologe, Redakteur oder Hochschullehrer bis zum Gründungsdekan des Fachbereichs Gestaltung an der Bauhaus Universität Weimar führte.
Mit "Wer plant die Planung?" ist nun, ein Jahr nach seinem Tod, ein Buch erschienen, in dem die Herausgeber Jesko Fezer und Martin Schmitz Texte von Lucius Burckhardt aus 50 Jahren ausgewählt und in drei Kapiteln Politik, Umwelt und Mensch chronologisch sortiert haben. Das macht Sinn, denn fast alle anderen Bücher dieses einzigartigen Denkers sind vergriffen.
Den Schwerpunkt setzen die Herausgeber von "Wer plant die Planung?" - übrigens der Titel eines Buchbeitrages von Lucius Burckhardt von 1973 - auf die Planungstheorie. Hier kommen erstmals auch sehr frühe Texte zur Veröffentlichung, wie "Stadtplanung und Demokratie" von 1957 oder "Macht moderne Architektur uns unfrei?" von 1961. Wer den Autor gar nicht kennt, kann darauf gefaßt sein, in diesem Buch auf aktuelle Fragestellungen und fundamentale Erkenntnisse zum Planen und Bauen zu stoßen. Die kritischen und scharfen Beobachtungen von Lucius Burckhardt haben viel bewirkt, aber sie geben auch heute jedem - wohnen tun wir ja schließlich alle irgendwo - ein kritisches Bewußtsein an die Hand, wie sich Gedanken und Interessen in die härteste Materie verwandeln: In Städte, Dörfer, Siedlungen, Häuser und Landschaften. Der Gang hinter die Kulissen der Planung lohnt sich - umfassender und präziser hat das kaum jemand formuliert.

Susanne Vogt in: Junge Welt, 6.10.2004
Zurück zum Buch

Jürgen Kaube (FAZ) im Gespräch über "Die Spaziergangswissenschaft"
Deutschlandradio-Kultur, 29.1.2007

Interview mit Martin Schmitz in: Die Zeit - Campus Online, 5.2.2007

Promenadologie
Lucius Burckhardt: Ein Band mit Texten des Theoretikers

Die Frage "Warum ist Landschaft schön?" ist nicht so einfach zu beantworten. Der gebürtige Schweizer Lucius Burckhardt (1925 bis 2003) versuchte es trotzdem immer wieder. Ein Sammelband gibt nun einen Überblick über die verstreut erschienenen landschaftstheoretischen Schriften des Design - und Planungskritikers, der ab den Siebzigern lange Jahre an der Universität Kassel Architekturtheorie und Spaziergangswissenschaften lehrte.
Weil "die Landschaft" als Idee nur in unseren Köpfen existiert, handeln Burckhardts Texte (und Zeichnungen) weniger von den schönen Aussichten, sondern davon, welche mannigfaltigen Beziehungen ein einfacher Spaziergänger mit seiner Umwelt eingeht. Wer mit wachem Auge die Umgebung beobachtet, dem stellen sich interessante Fragen. Etwa warum "Stadt" und "Land" in Zeiten der fortschreitenden Zersiedelung gar nicht mehr so einfach zu trennen sind. Oder: weshalb wir ein Viadukt als schön, ein Atomkraftwerk jedoch als eine Störung empfinden. Aber auch warum Gärten wie Kunstwerke sind und deshalb genau
wie diese befragt werden sollten. Burckhardts Essays regen an, sich einen eigenen Begriff von Stadt, Landschaft und Gesellschaft zu machen, um deren komplexe Verflechtungen verstehen zu können.

Kito Nedo in: Art - Das Kunstmagazin Nr. 10, Oktober 2006
Zurück

Wie macht man dem Städter seine eigene Landschaft sichtbar?
Lucius Burckhardt und seine "Spaziergangswissenschaft"

Das Verhältnis von Stadt und Land hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Die aus der Stadt aufs Land wandernden Leute finden ästhetisch verarmte Gegenden vor, in denen eine intensivierte Landwirtschaft Spuren der Verödung hinterlassen hat. Das betrifft die Artenvielfalt von Schmetterlingen, Wildkräutern, Vögeln und Blumen wie auch die Struktur der Landschaft selbst. Der wütende Kampf, den der Städter Stefan Aust im Spiegel gegen die Windkraftspargelaggregate führen ließ, ist da nur ein Beispiel. Gleichzeitig steht den heutigen Städtebewohnern so viel Grünfläche in den Städten zur Verfügung wie keiner Generation je zuvor. Und es gab nie mehr Pflanzen und Tierarten in den Städten als heute. Trotzdem sind es die Stadtbewohner, die sich über mangelndes Grün in den Städten beklagen und den Bauern auf dem Land vorwerfen, dass sie nicht schön und ökologisch den Acker bestellen.
Wer sich die Dramatik des Wandels zwischen Stadt und Land in seiner historischen Dimension vor Augen führen will, muss sich nur Friedrich Schillers Gedicht "Der Spaziergang" vornehmen. Darin heißt es: "Glückliches Volk der Gefilde! Noch nicht zur Freiheit erwachet ..." Der aus der Freiheit der Stadt aufs Land gehende Schiller findet die Bauern im Glück, weil sie noch draußen auf dem Felde unberührt von der Freiheit arbeiten. Freiheit, heißt das, gibt es nur im Dasein über der gebändigten Natur, nicht im täglichen Ringen mit ihr auf dem Feld. Schillers Gedicht wird an zwei zentralen Stellen der bundesrepublikanischen Philosophie zur Referenz in der Auseinandersetzung mit der Landschaft. Ernst Bloch dient es in seiner Tübinger Einführung in die Philosophie 1963 als Zeugnis für die Verwandtschaft der "Wanderung" mit dem "Geschichtlichen sowohl in der rückwärts erblickten wie vor allem nach vorwärts mitgemachten Abfolge und Reihe". Blochs Wanderer schaut aus der Stadt auf dem Land vorbei und findet dort die für ihn schon vergangene Welt eines ursprünglicheren Lebens in den Rhythmus der Ernten und des Tagwerks eingelassen. Dem davon schon entfernten Städter bleibt das Land allerdings auch bei Bloch im ästhetischen Genuss fremd.
Im selben Jahr veröffentlicht der Philosoph Joachim Ritter mit "Landschaft - Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft" nicht eine historische und begriffliche Grundlegung zum Begriff der Landschaft. Landschaft sieht man erst dann, wenn man nicht mehr in ihr arbeitet. Die Erschließung der Alpen als Landschaft erfolgt nicht durch Bergbauern und -arbeiter, sondern durch englische und andere Müßiggänger, die einen Berg ohne landwirtschaftliche Interessen besteigen.
"Nicht in der Natur der Dinge, sondern in unserem Kopf ist die ´Landschaft´ zu suchen; sie ist ein Konstrukt, das einer Gesellschaft zur Wahrnehmung dient, die nicht mehr direkt vom Boden lebt", fasst Lucius Burckhardt in seinem Buch "Warum ist Landschaft schön?" das Denken darüber zusammen. Das Buch versammelt die grundlegenden Aufsätze des 2003 verstorbenen Burckhardt zu der von ihm begründeten "Spaziergangswissenschaft".
Burckhardt war seit 1973 Professor für die Sozioökonomie urbaner Systeme in Kassel. Er hat das große Verdienst, bereits frühzeitig die "von selbst" vor sich gehenden Veränderungen in der Stadtlandschaft wahrgenommen zu haben. Da Burckhardt auch Stadtplaner, Designer und Architekten ausbildete, hat er als einer der ersten auf die Chancen hingewiesen, die sich der Stadtplanung aus der "neuen Natur" der Stadt ergeben. Bereits 1982 sind im Rahmen der von ihm initiierten Aktion "Kassel - Ein botanischer Garten" auf Verkehrsinseln wachsende Pflanzen mit kleinen Steckschildern und lateinischen Bestimmungsnamen versehen worden wie sonst nur in botanischen Gärten. Poa annua L., das einjährige Rispengras, war da zum Beispiel zu lesen, und Burckhardt fügt die Frage an: Warum bedienen sich die Stadtgärtner bei der Begrünung anstatt hochgezüchteter Spezialpflanzen so selten der vorhandenen, vielfältigen und natürlichen Ressourcen?
Einer der wichtigsten Gründe liegt für Burckhardt darin, dass der Stadtbewohner die Natur der Stadt selbst nicht sieht. Er erwähnt das Beispiel einer der letzten Kolonien des Erbockkäfers nördlich der Alpen in Basel. Man muss dem Städter den Käfer auch deshalb zeigen, weil der die meiste Zeit unter der Erde wohnt. Die Aufgaben von Burckhardts Spaziergangswissenschaft sind die Sichtbarmachung der städtischen Natur und Landschaft und die theoretische Fundierung des neuen Verhältnisses von Stadt und Land. Dabei bedient sich die Spaziergangswissenschaft ebenso der historisch-kritischen Aufarbeitung des Landschaftsbegriffs wie der Befunde der aktuellen Empirie zum Beispiel in der Stadtökologie.
Und was die Stadtökologie zur Zeit zur Aufklärung städtischen Lebens beiträgt, davon handelt das Buch "Stadtfüchse. Ein Wildtier erobert den Siedlungsraum". Der Band dokumentiert die Ergebnisse eines 1995 begonnenen interdisziplinären Forschungsprojektes, das die zun,ehmende "wilde" Fuchspopulation in Zürich untersucht. Der reich und spektakulär bebilderte Band macht darin das Leben der Zürcher Füchse im besten Sinne sichtbar. So werden die Reviere einzelner Füchse mit ihren Überschneidungen auf den Stadt'plan gezeichnet. Dies ermöglicht dem Leser nicht nur, fast physisch mit dem Fuchs durch die Stadt zu laufen, sondern zeIgt auch, wie der Lebensraum Stadt das Verhalten der Füchse verändert. Die auf dem Land in großen Territorien lebenden Tiere rücken in der Stadt enger zusammen und bilden regelrechte Sozialverbände. Was die Wahrscheinlichkeit, beim Spazierengehen in Zürich einem Fuchs zu begegnen, im Vergleich zum Berner Land deutlich erhöht. Auch das Glück der Füchse würde Schiller heute nicht mehr im Gefilde finden.
Mit beiden Büchern zusammen sieht man in der Stadt die Landschaften klarer. Früher nannte man so etwas Aufklärung.

Cord Riechelmann in: Süddeutsche Zeitung vom 21.11.2006
Zurück

Waches Umherschweifen
Texte von Spaziergangswissenschaftler Lucius Burckhardt

Spaziergangsland ist auch Entdeckungsland - Lucius Burckhardt machte es vor. "London Walking" von Simon Pope oder Francesca Fergusons "Urban Drift" - bis heute erscheinen regelmässig Werke vom Konzept des Dérive, des Umherschweifens inspiriert, das in einer Sammlung von Materialen zu jenen speziellen Avantgarden von Ottmar Bergmann so erklärt wird: "Die Dérive kann man sich als eine Fahrt ins Blaue, als eine Bewegung ohne festes Ziel vorstellen, ein zweckloses, aber hellwaches Umherschweifen in unbekannten, meist metropolitanen Landschaften, in den Steinwüsten und Schluchten der grossen Städte."
Niemandsland. Das wachsende Interesse an alternativen Wahrnehmungs- und Bewegungskonzepten ist jedoch nicht erst in unserer zur Nachhaltigkeit verurteilten Gegenwart entstanden. Es existierte bereits vor dem hedonistischen Narzissmus der achtziger Jahre, in denen das wiederaufgewärmte Bild des Flaneurs die schönen neuen Einkaufswelten attraktiv machen sollte. Bereits 1976, als die heutigen Bio-Supermärkte noch unvorstellbar waren, unternahm der 2003 verstorbene Begründer der modernen "Strollogie", der Basler Lucius Burckhardt, seinen "Ur-Spaziergang" in Riede bei Kassel. Schon damals dämmerte dem mit dem Design-Preis-Schweiz ausgezeichneten Querfeldein-Denker anhand der Teilnehmerberichte, dass in Landschaften gerne hineingelesen wird.
Nachzulesen ist dies und mehr jetzt im Band "Warum ist Landschaft schön? - Die Spaziergangswissenschaft", der im deutschen Martin Schmitz-Verlag erschienen ist. Darin findet sich Skepsis gegenüber einer vermeintlich fortschrittlichen staatlichen Planungseuphorie, die noch jedes Niemandsland optimieren muss, und eine nüchterne Betrachtung vermeintlicher Idyllen: "Nur wo der Mensch die Natur gestört hat, wird die Landschaft wirklich schön. Nur wo der Wald gefällt wurde, gedeihen Blumen. Nur wo die Panzer ihre Furchen gezogen haben, entsteht ein Biotop."
Mischform. Wie der Band eindrucksvoll zeigt, lassen sich nicht nur Spuren im urbanen Dschungel akribisch lesen - auch im vorstädtischen Schrebergarten lässt sich vom kundigen Leser einiges entdecken. Dazu wird zutreffend beschrieben, wie aus den einst gegeneinander gesetzten Konzepten "Stadt" und "Land", die verschiedensten Mischformen entstehen.

Gunnar Luetzow in: Basler Zeitung vom 24.11.2006
Zurück

Oh, wie schön ist das Spazierengehen!

Wer zu Fuß unterwegs ist, sieht mehr. Der Schweizer Autor Lucius Burckhardt ist Begründer der Spazierwissenschaften. Er fragt in seinem Buch zu Recht: "Warum ist Landschaft schön?" Und liefert erstaunliche Antworten.
Reisen beginnen im Kopf. Wir wissen, was uns in Griechenland erwartet, auch wenn wir nie dort waren. Malerische antike Ruinen werden unserem Aufenthalt einen geschichtsträchtigen Rahmen geben. An einsamen Stränden werden wir Abstand gewinnen vom Alltag. Die Begegnung mit Einheimischen wird uns daran erinnern, was es heißt, im Einklang mit der Natur zu leben. All diese Bilder nehmen wir mit nach Hause und erfreuen uns daran an langen Winterabenden.
Falsch: All diese Bilder nehmen wir mit in den Urlaub, und sind schrecklich enttäuscht, wenn die Buchten nicht einsam sind, die Landschaft zersiedelt ist, und die Einheimischen weniger an uns interessiert sind als am Umsatz kitschiger Souvenirs. Denn "Landschaft ist ein Konstrukt" in unseren Köpfen, wie in dem Band "Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft" mit Texten des Schweizers Lucius Burckhardt nun nachzulesen ist. Burckhardt, der 2003 verstarb, war Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme an der Gesamthochschule Kassel und Begründer der Spaziergangswissenschaft, der auch zu Fuß seine Studenten schulte in der Wahrnehmung von Stadt und Land. Schon seine englische Übersetzung des Fachs, "Strollology", zeigt, er tat dies mit Humor.
Amüsant und geistreich erklären auch seine Texte, dass wir noch heute mit Landschaftsbildern antiker Idyllen und der romantischen Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts unterwegs sind. Entspricht ihnen, was wir sehen, erfüllt uns eine tiefe Befriedigung. Doch konfrontiert mit dem real existierenden Einerlei von Stadt und Land heute, scheitert unsere Wahrnehmung, und wir sind hilflos wie der Analphabet vor einem Buch. Der lesbare "promenadologische Kontext" ist verloren, und wir verstehen die Welt nicht mehr.
Da nun schlägt für Burckhardt die Stunde des Spaziergängers. Er kann offenen Auges neue Kontexte herstellen und die eigene Wahrnehmung hinterfragen. Etwa indem er wie Burckhardt und seine Studenten eine "Fahrt nach Tahiti" unternimmt zu einem alten Truppenübungsplatz bei Kassel, begleitet von Lesungen der Reisebeschreibungen des Südseeparadieses aus dem 18. Jahrhundert. Oder indem er das monotone "Straßenbegleitgrün" der Stadt hinter sich lässt, das ihn blind macht für alle Parks, ihren Rand aufsucht und sich öffnet für den Reiz der Spontanvegetation auf Brachen und "Bauerwartungsland". Dem Autofahrer dagegen muss eine so direkte Aneignung der Welt um ihn herum verwehrt bleiben. Er passiert in derselben Zeit eine ganze Region wie das Burgund und kann am Ende, überfordert von den vorbeirauschenden Bildern, nur enttäuscht feststellen, "dass das Burgund auch nicht mehr das ist, was es einmal war".
Noch aber zieht die Sehnsucht nach dem ursprünglichen Naturerlebnis den modernen Touristen in die Extremlandschaft. Die wüstesten Wüsten und die schroffsten Gebirge sind ihm gerade recht. Dort spürt er dann mit absurdem Ehrgeiz etwa auf der "Fünfgletscherfahrt" der "Gletscherhaftigkeit des Gletschers" nach, wie Burckhardt es in seinem Buch beschreibt.
Oder er erliegt einfach der Verführungskraft der Klischees in seinem Kopf, die offensichtlich seine Kombinationsgabe fördern. Denn wie sonst sollte er die von Burckhardt entdeckte Reisenanzeige verstehen, die ihm verspricht, Zypern sei "wie Bergsteigen auf Sylt". Der Weg zur Entdeckung der Welt vor der Haustür erscheint da weit. Wer ihn trotzdem wagt, findet hier eine ideale Reiselektüre.

Frank Thinius in: Die Welt vom 26.11.2006
http://www.welt.de/data/2006/11/26/1124555.html
Zurück

Lucius Burckhardt: Seine Welten, seine Weiten

Im September 2006 ist ein 350-seitiger Band mit Texten von Lucius Burckhardt erschienen: "Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft". Ein Jahr zuvor erschien der ebenso umfangreiche Band "Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch". Beide Bände zusammen vereinigen 63 Texte, über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren verfasst, die in den verschiedensten Zeitschriften und Zeitungen, auch in Ausstellungskatalogen, Jahrbüchern etc. erschienen sind, und die dem Inhalte nach weit über die Buchtitel hinaus die ganze Weite, den ganzen Kosmos des Burckhardt'schen Denkens aufspannen.
Die Gedankenwelt von Lucius Burckhardt (1925-2003) dürfte vielen Leserinnen und Lesern der disP in Teilen bekannt sein. Nun können sie den ganzen - fast den ganzen - Kosmos studieren und ihren Sinn erweitern, sich wiederfreuen (oder vielleicht auch wiederärgern). Er analysierte präzise, dachte manchmal sperrig, schrieb (und referierte) stets brilliant und in einer einmaligen Mischung von Melancholie und Ironie. Und für die, denen der Name gar nichts mehr sagt, nur so viel: Lucius Burckhardt, Doktor der Soziologie, hatte zwischen 1961 und 1973 mehrere Lehraufträge, unter anderen eine Gastdozentur für Soziologie an der Architekturabteilung der ETH Zürich. Von 1973 bis 1997 lehrte er als Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme an der Gesamthochschule Kassel. Mehr Angaben über seine Tätigkeiten finden sich, wie es sich gehört, auf den Klappentexten beider Bände. Und der Planungs-Band beginnt mit einer Biographie und Hommage, liebevoll geschrieben von Mitherausgeber und Verleger Martin Schmitz, Ende der 1970er-Jahre Student von Burckhardt in Kassel. Darin tritt auch Lucius' alter ego ein wenig aus der Kulisse: Ehefrau Annemarie Burckhardt, die immer und überall zugegen war, wo er dozierte, referierte, Tagungen leitete, und die mit der ihr eigenen Diskretion den Herausgebern der beiden Bände nun zur Seite gestanden hat.
Es sei ein wenig eingetaucht in diesen Kosmos. Zuerst zum Landschafts-Buch. Was da als "Spaziergangswissenschaft" oder "Promenadologie" (engl. strollology) daherkommt, erweist sich als alles andere als ein Jux. In konventioneller Terminologie ist diese Wissenschaft eine Unterabteilung der Ästhetik, nämlich Landschaftsästhetik. Es handelt sich um eine Theorie der Wahrnehmung, bezogen auf Landschaft und Natur, eine Theorie, mit der Burckhardt auch Architektur und Stadt und Design untersucht hat, und in der immer wieder ein kurzer Satz auftaucht: "xy ist unsichtbar". Eben auch: "Landschaft ist unsichtbar".
Suchen wir eine Definition. Sie ist erwartungsgemäss zu finden in dem mit "Spaziergangswissenschaft" betitelten Text von 1995, einem der wenigen bisher unveröffentlichten, und übrigens dem umfangreichsten im ganzen Buch. "Uns interessiert der Spaziergang ... als eine Wahrnehmung. Diese Wahrnehmung setzt aber ein kulturelles Paket an früheren Darstellungen voraus, denn nur in Ausnahmefällen vermag der Mensch etwas wahrzunehmen, was ihm nicht schon bildhaft oder literarisch vermittelt ist." Wobei das vermittelnde Bild auch eine simple Postkarte sein kann und die vermittelnde Literatur das Kinder- oder Schulbuch. "Diese kulturelle Vermittlung ist in der Regel eine Anleitung zur Selektion, also zur Ausfiltrierung von Eindrücken. Die hunderttausend Informationen, die auf einem Spaziergang auf uns einströmen, können ja nicht verarbeitet werden; soll in unserem Kopf so etwas wie ein Landschaftsbild entstehen, so müssen die zugehörigen Informationen unterdrückt oder verdrängt werden. Kehrt ein Kind von einem Spaziergang zurück, so erzählt es, dass es eine bunte Blechdose gefunden hat, die es dann schliesslich donnernd in einen Schacht hinunterwarf; kehrt ein Erwachsener nach Hause zurück, so beschreibt er die Dinge, die er pflichtgemäss in dieser Gegend hätte sehen sollen ..." "Die Spaziergangswissenschaft ist also ein Instrument sowohl der Sichtbarmachung bisher verborgener Teile des Environments als auch ein Instrument der Kritik der konventionellen Wahrnehmung selbst. Wir möchten zeigen, dass wir diese Instrumente sowohl auf städtische wie auch auf ländliche Environments angewandt haben und erkenntnismässige Resultate hervorbrachten."
Solche Resultate sind dann zum Beispiel Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen dem Werkzeug des Spaziergangs, nämlich dem gewählten Verkehrsmittel, und der wahrgenommenen Stadt- oder Naturlandschaft. Oder es sind Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen dem Verschwinden der Landschaft in der Agglomeration und der parallel dazu zunehmenden Verehrung von Extremlandschaften wie Hochgebirgsgletscher oder Wüsten. Oder es sind Erkenntnisse, wie "Landschaft" überhaupt entsteht, nämlich nach folgender Grundregel: "Landschaft ist ein Konstrukt. Und mit diesem schrecklichen Wort soll nichts anderes gesagt sein, als dass die Landschaft nicht in den Erscheinungen der Umwelt zu suchen ist, sondern in den Köpfen der Betrachter. In der Umwelt eine Landschaft zu erblicken, ist eine schöpferische Tat unseres Gehirns."
Nun greifen die verschiedenen Texte des Landschafts-Bands aber weit über dieses Kernthema hinaus, was mit der Wiedergabe einiger Titel angedeutet sei: "Natur ist unsichtbar". "Ästhetik und Ökologie", "Brache als Kontext" - und dann eine grosse Gruppe von Arbeiten über Gärten und Gartenkunst: "Gärtnern - Kunst und Notwendigkeit", "Die Vernunft schläft im Garten", "Gärten sind Bilder", "Tendenzen der Gartenkunst". Beim Kreuzund-Quer-Lesen lassen sich wunderbare Funde machen, etwa im Aufsatz "Der Garten der Arten", worin es um die botanischen Gärten geht, gemeint ursprünglich als Rekonstruktionen des Gartens Eden - ein Stück reine Philosophie inmitten eher praktischer Reflexionen zur Gartenkunst (oder dem, was wir heute Landschaftsarchitektur nennen).
Der Schlüsseltext zum Planungs-Band ist derjenige mit dem Titel "Wer plant die Planung?" von 1974. "Diese Frage soll darauf hinweisen, dass Planung nicht isoliert geschieht, sondern dass sie bedingt ist durch die Politik, dass sie aufgehängt ist in einem sozialen System. Wie man plant, mag der Fachmann wissen, obwohl ... auch sein "Wie" nicht ohne gesellschaftliche Bedingtheit ist; aber was geplant wird und was nicht geplant wird, was man sich selbst zu überlassen plante, das wird durch politische und gesellschaftliche Kräfte bestimmt." ... "Die Frage: Wer plant die Planung? - heisst also zunächst: Wer bestimmt, was geplant wird (und was nicht)?"
Dieser Grundfrage geht dieser Schlüsseltext nach und einige weitere Arbeiten tun es direkt und indirekt ebenfalls. Und Lucius Burckhardt fand durchaus Antworten, die zusammenfassend auf eine Kritik nicht nur des Planungssystems, sondern ebenso des politischen Systems hinauslaufen und nebenher auch des "Bausystems". Ein Leser wie ich stösst dann wieder auf all die Grundgedanken und auch griffigen Formeln, die ihn über die Jahre als Leser und Zuhörer beeindruckt haben, ja ihm "eingefahren" sind: "Der Weg zur Hölle ist mit sauberen Lösungen gepflastert." Und aus seiner ceterum censeo-Sammlung: Die Politik, "das System", meint mit Bauten die Probleme lösen zu können statt mit Organisation. Immer wiederkehrendes Beispiel: der Strassenverkehr: Man meint mit mehr und breiteren Strassen den Verkehr "in den Griff" zu bekommen, baut wie wild Strassen und erzeugt noch mehr Verkehr und noch mehr Staus nebst Zerstörungen der Umwelt und der Städte statt das Verkehrssystem - oder besser das Mobilitätssystem - anders zu organisieren und anders zu gestalten.
Eine grosse Gruppe von Texten im Planungsband handelt sodann von Städtebau und Stadtbild, von den ästhetischen Fragen der Stadt und der Architektur. Und auch hier kommt die Erkenntnis: Das Wesentliche der Stadt ist unsichtbar. Die Bewohner der Stadt "sehen" sie ganz anders als die Besucher und die optisch Geschulten. Ihnen ist ziemlich egal, wie's ausschaut. "Was den Ausschlag gibt, ist alles unsichtbar. Es geht (etwa) um zwischenmenschliche Beziehungen, um die Möglichkeit in bestimmte Kreise einzutreten, um die Abwesenheit anderer Gesellschaftsklassen, um Kaufbedingungen für das Haus, um die Zugänglichkeit zu den Privatschulen, die den Kindern tatsächlich ein späteres Universitätsstudium ermöglichen." (Am Beispiel des berühmten Levittown, dem Prototypen der amerikanischen Einfamilienhaus-Vorstadt.)
Die Stadtplanungskritik führt die Leserin, den Leser von heute zu der Frage: Haben wir seit 1970 eigentlich etwas gelernt? Repetieren wir die Fehler immer weiter?
Oder haben wir, haben die Planer, haben die Politiker die Stadt inzwischen als System begriffen, mindestens ein Stück weit, und begonnen, entsprechend anders mit ihr umzugehen? Mit dieser Frage im Hinterkopf wird die Lektüre der "alten" Texte immer spannender.
Lucius Burckhardt hat sich mit der Kritik nie begnügt. Er plädiert schliesslich für die "Planung der kleinsten Voraussage", für "die kleinen Schritte", für das intervento minimo, das die Zukunft nicht verbaut, sondern die nächsten Schritte offen lässt, für den permanenten Umbau des Plans und der Bauten. Und so führt uns der letzte und jüngste Aufsatz des Bands "Unbewusst und unschuldig - Wie entsteht Gemütlichkeit" (2001) an den Ort, den Lucius Burckhardt schon 25 Jahre zuvor als seinen "liebsten Ort der Welt" bezeichnet hat: Die Cité Ouvrière in Mulhouse, ein Quartier, dessen Bewohnerinnen und Bewohner, die "Cité-Hüsler", über Generationen an ihren Häusern herumwerkeln, anbauen, umbauen, erneuern, flicken, nach dem Prinzip der kleinen Schritte, eben das intervento minimo.
Eine weitere Frage taucht im Hinterkopf auf: Hat der Lehrer, der charmante und witzige, oft auch angriffige Prediger Lucius Burckhardt eigentlich etwas bewirkt? In seinen Studentinnen und Studenten gewiss, in der Planer- und Architektenzunft
vielleicht wenig. Und doch weiss ich ein Beispiel: Im Planungsband findet sich auch der Aufsatz wieder "Design ist unsichtbar" (1980). Die Botschaften dieses Textes haben jedenfalls den Horizont der Designer - ich meine jetzt nur die Industrial oder Product Designer - ausgeweitet, und das hat sich ausgewirkt auf die Design-Schulen und auf die neuen Designergenerationen. Sie beziehen heute die unsichtbaren Komponenten des Designs in ihr Vorgehen ein, teilweise mindestens ganz im Geiste von Lucius Burckhardt.

Dr. Rudolf Schilling in: disP 166, 3.2006 (ETH Zürich)
Zurück

Landschaft: Das Kino im Kopf
Die von Lucius Burckhardt erfundene Spaziergangswissenschaft warnt: Verwechselt Natur nicht mit Landschaft, denn die reproduziert nur kulturell gewachsene Normen.

Was bitte ist Spaziergangwissenschaft? Lernt man, wie der ideale Rucksack gepackt sein muss und was ins Fresspaket für die Wegzehr gehört? Wie sich der Spazierlustige in Stadt und Land orientiert, die Himmelsrichtungen anhand des Moosbewuchses erkennt und die Karte einnordet? Nichts von alledem.
Der Stadtplaner und Soziologe Lucius Burckhardt (1925-2003), der aussah, als hätte ihm seine Frau Annemarie die Haare geschnitten, sprach 1990 in einem Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft erstmals von der Spaziergangswissenschaft als seinem Forschungsschwerpunkt. Dabei ging es ihm um eine Karikatur des Flanierens, und zwar aus einer ironischen, analytischeren Haltung heraus: spazieren vom Kopf her als Dekonstruktionsübung vorgefertigter Wahrnehmung.
Der Promenadologe Burckhardt wird häufig als Soziologe und Kunsthistoriker bezeichnet - aber diese Definitionen sind etwas ungenau. Burckhardt studierte in den 40er-Jahren in Basel Medizin und Nationalökonomie. Als er Wind bekam von dem damaligen Korrektionsplan der Stadtverwaltung, nach dem die halbe gotische Altstadt zugunsten des Autoverkehrs abgerissen werden sollte, wollte er das mit einem grundvernünftigen Ansatz verhindern: "Lasst doch 30 Jahre vergehen, bis sich dieser Autorausch gelegt hat!" So gründete er schon 1949 eine Art Bürgerinitiative avant la lettre und verhinderte einen Teil der geplanten Abrisse. Aber lange noch war er immer wieder der Einzige, der für Bürgerbeteiligung in Stadtplanungsdingen eintrat.
Burckhardt bildete sich zum Soziologen weiter und wurde Gastdozent an der renommierten Gestaltungshochschule in Ulm. Mit seinem akkuraten und gleichzeitig eingängigen Schreibstil publizierte er sowohl in Fachzeitschriften als auch in populären Magazinen. In seinem Aufsatz "Was erwartet der Bürger von der Stadtgestalt?" stellte er die Forderung, dass Design unsichtbar zu sein habe und an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet: "Das beste Design für eine Straßenbahn ist, wenn sie auch nachts fährt." Sein Credo für modernisierenden Stadtumbau war die "interventio minima", also der kleinstmögliche Eingriff im Gegensatz zu den von den meisten Architekten bevorzugten Tabula-rasa-Ansätzen.
1972 wurde Burckhardt Professor in Kassel. Auf seinem extra für ihn erfundenen Lehrstuhl erforschte er die wechselseitigen Einflüsse von Politik, Mensch und Umwelt - ausgerechnet in der im Zweiten Weltkrieg fast komplett zerstörten Stadt, die anschließend nach Nazi-Plänen autogerecht wieder aufgebaut wurde. Als Vorsitzender des Deutschen Werkbundes (1977-1982) agierte er in seiner Themensetzung durchaus wegweisend: Mitbestimmung, Ökoarchitektur, Regionalismus im Bauen. Der Keim für die Spaziergangswissenschaft, die er später erfand, lag schon in diesen Interessen. Näher rückte er diesem seinem Fachgebiet - von ihm auch "Strollologie" genannt - beim Beobachten der Bundesgartenschau in der Kasseler Karlsaue 1981. Sein Fazit damals: "Durch Pflege zerstört". Für die bunten Blumen war die Vegetation bis in 40 cm Tiefe durch Gift abgetötet worden, eine Lindenallee zugunsten historisch "richtiger" Eichen abgeholzt und Drainagegräben mit Bulldozern zugedrückt worden, wodurch die Karlsaue schlicht absoff.
"Warum ist Landschaft schön?", fragte er immer wieder und konnte überzeugend ausführen: "Die Landschaft entsteht in unseren Köpfen." Wie im Film entstehe Landschaftswahrnehmung als kinematografischer Effekt: als Zusammensetzung von Myriaden von Eindrücken, die aber durch das, was wir zu sehen gelernt haben, gefiltert werden. Burckhardt warnte: Man möge nicht in die Landschaftsfalle gehen und Natur mit Landschaft gleichsetzen. "Schöne" Landschaft war für ihn nichts weiter als das Wiedererkennen kulturell gewachsener Normen. Darum sah Burckhardt auch nicht ein, warum ein durch den Wald rauschendes Bächlein vor Bergkulisse schöner sein sollte als eine Brache in der Stadt oder ein Gasometer in St. Louis. Auf Burckhardts einzigem Spazierstocknagel stand schlicht: "Hier ist es schön."

Falko Henning in: taz vom 27.12.2006
Zurück

Lucius Burckhardts Spaziergangswissenschaften

In den 80er Jahren begründete der Basler Soziologe und Urbanist Lucius Burckhardt (1925-2003) die Promenadologie. die Spaziergangswissenschaft. Eine ursprüngliche Form der Welterkundung ist gemeint, unter die sich Burckhardts gesamte Planungs- und Gestaltungswissenschaft subsumieren lässt. Er plädierte für ein anderes Verständnis von Landschaft und Raum. Architektur und Planung. Wer sich auf die Spaziergangswissenschaft einlässt, der nähert sich der umgebenden Welt langsamer, selbst beobachtend, kritisch flanierend an. Dem wird deutlich, dass ein wissenschaftliches und literarisches System, Vorgefasstes und Vor-Formuliertes die Wahrnehmung steuert. Anliegen der Strollologie ist es, diese Determiniertheit unserer Wahrnehmungsformen zu erkennen, so dass sich ein Feld für eigenes Sehen und Nachdenken öffnen kann.
Die Spaziergangswissenschaft proklamiert Geschichten, die sich im Modus der Annäherung herstellen, eine Bewegung im Kontext, in der sich Bedeutung in Zusammenhängen generiert. Burckhardt lehrte die Spaziergangswissenschaft als "action teaching", er lief mit seinen StudentInnen Stadtränder und Ampelanlagen ab. um aus unmittelbarer Anschauung neugieriger und kritisch-vergnüglicher Zuwendung heraus das Denken zu entwickeln. Dem entsprechen auch seine Texte. die bar jeder grossen Geste sind. Im Schreiben scheint Burckhardt seine anschaulichen Thesen zu entwickeln. nicht abgehoben und im Voraus wissend. Der Urbanismuskritiker sprach sich für einen ganzheitlichen Blick aus, der hinter der designten Oberfläche die sozialen Strukturen erkennt.

Brita Polzer in: Kunst-Bulletin Nr. 12, Dezember 2006
Zurück

Wer das schön findet, sieht den Wald vor lauter Windrädern nicht mehr
Wanderer, aufgepasst: Die Spaziergangswissenschaft macht uns auf Schritt und Tritt mit einer Landschaft vertraut, die das Gesicht eines Technologieparks annimmt.

Warum ist Landschaft schön? Was macht sie hässlich? Und wie schön ist hässlich in der Natur? Verwirrende Fragen einer Forschungsrichtung, die höchst aufschlussreich das gewandelte Verhältnis von Stadt und Land untersucht. Warum sollte man sich nicht auch in der Landschaft an alles gewöhnen können? Oder gibt es Grenzen, jenseits deren Landschaft nicht mehr Landschaft ist? Das ist die Kernfrage der fröhlichen Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie, die der Zunftgründer Lucius Burckhardt in dem Buch "Warum ist Landschaft schön?" vorstellt. Der 2003 verstorbene Kasseler Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme kommt hier in einer Auswahl seiner Aufsätze zu Wort, die sich der historisch-kritischen Aufarbeitung des Landschaftsbegriffs widmen. Demnach hat die moderne Landwirtschaft zusammen mit der Automobilisierung der Gesellschaft und dem weltweiten Tourismus nicht nur das Erscheinungsbild, sondern auch unsere Wahrnehmung von Landschaft verändert.
Heute sind die früher üblichen kleinteiligen Muster der Naturwahrnehmung zum Teil überholt. Die modernen Passanten erleben als Autofahrer Landschaft viel großräumiger als der historische Fußgänger. Sie sind von der ihnen abverlangten Integrationsleistung überfordert. Sie schaffen nicht mehr die Synthese des Vielfältig-Verschiedenen, ohne welche Landschaft nicht ist. Hinzu kommen die das Landschaftsbild verändernden Monokulturen und die Umweltproblematik: Wer weiß, dass er als Konsument zur Umweltzerstörung beiträgt, der kann nicht länger jenes "interesselose Wohlgefallen" an der Natur als selbstverständliches Kennzeichen von Landschaftswahrnehmung empfinden. Die Frage ist denn auch: Wie kann in dem sich wandelnden Verhältnis von Stadt und Land Landschaft überhaupt noch als solche wahrgenommen werden?
Burckhardts Vorschläge sind hier einerseits praktischer Art und betreffen andererseits unsere Einstellung zum Phänomen Landschaft. Praktisch ist die Empfehlung, den zunehmend eingeebneten Unterschied zwischen (begrünter) Stadt und (baulich verstädtertem) Land wieder zu stärken, weil ohne diesen Kontrast Landschaft nicht wahrgenommen wird. Praktisch sind der Rat, der Natur in städtischen und ländlichen Brachen eine Atempause zu gönnen, sowie der Vorschlag, durch die Anlage von "Wegen durch die Zeiten" eine neue Wahrnehmung von Kulturlandschaften zu ermöglichen.
Dieser Spaziergang durch die Zeiten endet nicht bei Omas Bauernhof: In grundsätzlicher Offenheit für Neues führt er bis an die Gegenwart mit ihren Technologien und technischen Anlagen heran. Erschienen nicht mittelalterliche Burgen oder frühneuzeitliche Windmühlen in Holland, die heute den nostalgischen Reiz des Vergangenen atmen, den Menschen seinerzeit als moderne Wehranlagen und Kraftmaschinen so fremdartig wie, sagen wir: ein Kraftwerk in der Landschaft heute? Oder wie moderne Windräder?
(...) Heute jedoch ist Landschaft das Produkt des neuzeitlichen europäischen Subjekts, das vor die Tore der Stadt tretend die Natur, zu der es keine unmittelbare Beziehung mehr hat, als Objekt einer Sinnfindung aufsucht. Und zwar im Wesentlichen noch immer nach dem Vorbild der frühneuzeitlichen Landschaftsmalerei. Gerade nicht besiedelte, "unberührte" Naturräume wie Wüsten und Gebirge, die aus dem Landschaftsbegriff von Regiowind herausfallen, werden seitdem als schöne Landschaft erlebt. Genau diesem Landschaftsbegriff trägt das Bundesnaturschutzgesetz Rechnung, wenn es "Vielfalt, Eigenart und Schönheit" einer Landschaft schützt.
Selbst von der historisch-kritischen, scheinbar alles verstehenden Spaziergangswissenschaft sind hier keine Einwände zu erwarten. Auch diese Zunft lässt sich nicht ein X für ein U vormachen. Da zudem der ökologische Nutzen der Windräder nicht erwiesen ist, wird man bis auf weiteres von visueller Umweltverschmutzung reden dürfen.

Hans-Dieter Fronz in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.01.2007
Zurück